[Berlinale 2011] Film: Vaterlandsverräter

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Vaterlandsverräter Deutschland, 2011; Regie: Annekatrin Hendel :::: gesehen am 14.2.2011 in Perspektive Deutsches Kino

So geht der Film los … (YouTube Direktlink)

… und schon nach zwei Minuten ist man gebannt und will mehr wissen von dieser Person, die sich da so weit aus dem Fenster hängt. Annekatrin Hendel nähert sich in ihrem Dokumentarfilm dem Schriftsteller Paul Gratzik, der in der DDR 20 Jahre als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi gearbeitet hat und 1981 seine Spitzeltätigkeit offenbarte. Der Film ist eine sehr spannende Gradwanderung zwischen persönlichem Porträt und Deutscher Geschichtsaufarbeitung. Auch hier gilt mal wieder: das Private ist politisch. Und eine Pauschalisierung, eine einfache Erklärung auf die neugierig gestellte Frage, wie und aus welcher Motivation kamen Literaten in der DDR zur Staatssicherheit, wird der Film nicht geben. Aber wir lernen Paul Gratzik kennen. Ein Kind aus armen Hause, ein Lebemann, ein Liebhaber, ein Charismatiker, ein überzeugter Kommunist, ein Säufer, ein Literat, ein Bauernschlauer, der sich mit Frauen, dem Kulturbetrieb und dem Staat arrangiert. Es ist ein Gemenge aus dem großen Ganzen der Weltgeschichte und dem Individuum in seiner Zeit. Das sind sehr weite Klammern, die der Film aber souverän zu schließen weiss.

Es ist der Inhalt, aber vor allem auch die sensible Kamera, und der didaktische Schnitt, welche den Film für mich so sehenswert gemacht haben. Die porträtierte Figur ist schillernd, das trägt. Und über all der Aufarbeitung von Stasivergangenheit schweben dazu noch ganz wahrhaftige Momente des Lebens, des Alterns, der Freude, der Ängstlichkeit vor dem Selbst, der Leugnung und der souveränen Selbstironie. Keine Hollywood-Geschichtsaufarbeitung, aber dadurch um so wahrhaftiger.

Annekatrin Hendel im Berlinaleprogramm:

„Dieser Film ist kein Enthüllungs- oder Rechtfertigungsfilm, sondern einer über die Zerrissenheit eines deutschen Literaten, der mit seinen Werken durchaus prägend wirkte. Paul Gratzik ist in Widersprüchen zu Hause. Jede Auseinandersetzung mit Paul Gratzik ist gleichzeitig eine große intellektuelle und emotionale Herausforderung. Ich konfrontiere die Zuschauer mit den alten und neuen Ideen meines ungewöhnlichen Protagonisten, so verwickelt, spannend, leidenschaftlich und manipulativ, wie ich sie seit über 20 Jahren von ihm kenne. Und der Film erzählt von der privaten Person Paul Gratzik, die nicht der ,unauffällige‘ Stasizuträger war, wie wir ihn aus Geschichtsbüchern und Filmen kennen, sondern charismatisch, pompös, schroff und charmant.“

Nach dem Film gab es eine kleine Welle der Empörung: Paul Gratzik war vor Ort und beantwortete Fragen aus dem Publikum. Dabei trat etwas zu sehr die Rolle des charmanten Lebemanns und gläubigen Kommunisten hervor, was von einigen Zuschauern heftigst beanstandet wurde. Wobei gleichzeitig nicht der Film an sich, sondern die Art und Weise wie in dem Moment der Person ein Forum geboten wurde. Ein sehr gutes, differenzierendes Publikum, gute Fragen, etwas Kontroverse. Gute Antworten von Annekatrin Hendel und schön, nach dem Film noch einen realistischen Eindruck von Paul Gratzik zu bekommen.

Der Film kommt im Herbst 2011 in Deutschland in die Kinos und wird sicher auch irgendwann auf arte laufen.

Website zum Film: vaterlandsverraeter.com

Autor: @tristessedeluxe

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