Ich habe mich nochmal etwas mit dem Google Street View Kunstprojekt von Jon Rafman beschäftigt. Auf dem Fotoblog The Nine Eyes of Google Street View sammelt der Künstler Jon Rafman sehr bemerkenswerte Fotographien aus Google Street View. Sein Ansatz ist dabei, in den automatisch produzierten, scheinbar neutralen Aufnahmen Referenzen zu Fotogenres und Stilrichtungen zu suchen. Daraus ist auch eine Ausstellung entstanden, die Google Street Views.
Jon Rafman schreibt selber über sein Projekt in einem Gastartikel auf artfagcity.com:
The world captured by Google appears to be more truthful and more transparent because of the weight accorded to external reality, the perception of a neutral, unbiased recording, and even the vastness of the project. At the same time, I acknowledge that this way of photographing creates a cultural text like any other, a structured and structuring space whose codes and meaning the artist and the curator of the images can assist in constructing or deciphering.
(…)
With its supposedly neutral gaze, the Street View photography had a spontaneous quality unspoiled by the sensitivities or agendas of a human photographer. It was tempting to see the images as a neutral and privileged representation of reality—as though the Street Views, wrenched from any social context other than geospatial contiguity, were able to perform true docu-photography, capturing fragments of reality stripped of all cultural intentions.
Das alles erinnert mich an den Wim Wenders Film „Lisbon Story“ von 1994. Darin will ein Regisseur einen Film über Lissabon drehen und legt darauf wert, so zu tun, als ob die ganze bisherige Filmgeschichte nicht stattgefunden hätte. Er zieht alleine mit einer Handkamera durch Lissabon und versucht sich frei von Referenzen seines eigenen Bildwissens zu machen. Das gelingt natürlich nicht. In seiner künstlerischen Not schreibt der Regisseur einen Hilferuf an einen befreundeten Toningenieur. Als der Toningenieur in Lissabon ankommt, kann er seinen Freund nicht finden. Nur den angefangenen Film findet er vor. Er entscheidet sich, zu warten und beginnt seinerseits die Töne der Stadt aufzunehmen. Irgendwann laufen die beiden sich schließlich über den Weg. Der Regisseur ist inzwischen dazu übergegangen, mit einer Videokamera auf seinem Rücken ganz wahllos zu filmen, während er durch die Stadt spaziert, genießt und sich vollkommen frei gemacht hat vom Anspruch des selektiven Blicks eines Kameramanns.
Wim Wenders hat zwar in seinem Film nicht die Google Street View Autos vorweggenommen. Aber Google hat quasi den Anspruch des Filmemachers aus „Lisbon Story“ systematisch umgesetzt. Und Jon Rafman re-kontextualisiert das scheinbar neutrale Streetview Bildmaterial und stellt damit implizit die Frage nach dem Zusammenhang von Kunst, dem Zufall und der Selektion des Betrachters im Prozess der automatischen Bildproduktion. Harun Farocki, bitte übernehmen sie!